Montag, 1.12.14 (Catholic Mission, North Horr): Wir sind ganz schön geschafft von der Kircheneinweihung. Eigentlich haben wir ja nicht viel getan, nur ein paar Stunden herumgesessen, sind ein wenig herumgelaufen und haben uns auf der Fahrt durchrütteln lassen. Das alles bei 39°.
Trotzdem, es war ein Erlebnis, das wir nicht missen möchten.
Heute hält sich die Sonne zurück. Die Wolken sind dick und ab und zu auch nass. Keine guten Voraussetzungen, sich auf den Weg zum Turkana See zu machen.
Wolfgang kommt mit einem Lkw-Fahrer ins Gespräch, der in der Mission seinen Wagen reparieren will. Das Getriebe hat sich losgerissen und er ist die letzten 100 km mit einem notdürftig durch Seile am Platz gehaltenen Getriebe gefahren. Wenn man sich das anschaut, mag man nicht glauben, dass der Laster damit auch nur einen Meter fährt, vor allem nicht mit zehn Tonnen Baumaterial im Rücken.
Doch hier sieht man dies alles sehr gelassen. Dem Fahrer lag ein ganz anderes Thema mehr am Herzen: “Sind im Deutschen Ä, Ö und Ü wirklich richtige, eigenständige Buchstaben oder kann man die Pünktchen einfach weglassen?” Da wir ja aus “Bayern Munchen” kommen und jeder Afrikaner fußballverrückt ist, gibt es genügend Umlautbeispiele: Muller, Ozil, Matthaus. Nein, man darf die Pünktchen nicht einfach weglassen. Man kann ein Fußballspiel absagen, es aber nicht absägen und am Stuhl des Trainers kann man sägen, aber der lässt sich nichts sagen.
Missionsarbeit ist ganz schön schwierig.
Jetzt muss er nur noch das Getriebe richtig festschrauben, dann kann der Lkw wieder zurück nach Nairobi. Nebenbei gibt uns der Fahrer noch den Hinweis, dass es westlich von North Horr ganz schön geregnet hat. Genau da wollen wir hin und beschließen, heute nicht mehr loszufahren. Es sind runter zum Turkana See zwar nur knapp 100 km, doch die können es in sich haben.
Dienstag, 2.12.14 (Catholic Mission, North Horr): Das Wetter will sich nicht bessern. Auch nachts hat es ordentlich geregnet. Immerhin kommt am Tage kein neues Wasser mehr dazu.
Wir erfahren, dass der Pfarrer der neu eingeweihten Kirche dank des Regens in seiner Gemeinde festsitzt. Er wollte an sich heute nach North Horr kommen, doch die Wege sind unpassierbar.
Mmmh, Wolfgangs Visum in Kenya läuft in 10 Tagen ab. Wenn nach Westen gar nichts mehr gehen sollte, dann müssen wir den Rückmarsch über Marsabit antreten, so, wie wir gekommen sind. Verlockend klingt das nicht.
Deutlich besser klingt, dass offensichtlich heute Nachmittag ein Fahrzeug aus Gus, einem Ort auf halbem Wege zum Turkana See, nach North Horr durchgekommen ist. Also werden wir die Strecke morgen mal versuchen und notfalls umkehren oder unterwegs im Busch übernachten.
Mittwoch, 3.12.14 (Palm Shade Camp, Loiyangalani): Die Sonne lacht aus allen Knopflöchern und saugt hoffentlich viel Wasser von der Piste. In der Nacht hat es auch nicht mehr geregnet, so dass unsere Chancen deutlich gestiegen sind.
Wir verabschieden uns von unseren Gastgebern in der Mission. Unser Besuch hier wird uns lange in Erinnerung bleiben. Wir haben großen Respekt vor dem, was die Leute hier tun und warum sie es tun. Es wird zwar nicht dazu führen, dass wir der katholischen Kirche beitreten werden, doch wir sehen vieles jetzt differenzierter und wissen, dass es nicht nur die deutsche Amtskirche samt Tebarz van Elst und Walter Mixa gibt. Mixa war übrigens auch mal in North Horr zu Gast, die hiesigen Pfarrer kommen ja - erstaunlicherweise - aus seiner Diözese.
Außerdem haben wir gedacht, ein Missionar denkt den lieben langen Tag daran, wie er seine ungläubigen Schäfchen für die Kirche gewinnen kann. Das spielt natürlich auch eine Rolle, aber eine viel unbedeutendere, als wir annahmen. Einer der Missionare hat es kurz und prägnant auf die Formel gebracht: 75 % unserer Arbeit sind ganz “normale” humanitäre Hilfe, der Rest Seelsorge.
So, und wir sorgen uns jetzt um unsere Weiterfahrt, denn ab jetzt geht es bergab. Rein geographisch gesehen. Balesa und North Horr sind die beiden nördlichsten Punkte, die wir von Südafrika aus je erreicht haben, 300 km nördlich des Äquators. Nach Kapstadt sind es von hier aus noch gut 4500 km Luftlinie, nach Deutschland gerade mal 1000 km mehr. Wenn man es darauf anlegen würde, könnte man in zwei Wochen bis Kapstadt durchfahren. Leider gilt dieselbe Rechnung in der anderen Richtung nicht, denn da liegt mit Äthiopien, Sudan und Ägypten schwieriges Terrain dazwischen, außerdem gefällt es uns im Süden viel zu gut.
Ab jetzt also stramm nach Süden.
Toni bietet uns an, auf den ersten 20 Kilometern vor uns her zu fahren, denn er muss dort die Baustelle einer Schule kontrollieren. Die Piste ist zwar ziemlich sandig, doch problemlos zu befahren. Im Gegensatz zu gestern staubt es wieder. Ein gutes Zeichen.
Ab der Schule müssen wir uns den Weg allein suchen.
Es geht wie bisher weiter, nur gelegentlich unterbrochen durch ein nasses Flussbett. Meistens muss Wolfgang nur ein paar Schritte ins Wasser machen, um zu sehen (oder besser zu fühlen), dass es weder zu tief noch zu weich ist. Ab und zu reicht das nicht, dann muss er beide Spuren komplett ablaufen, um sicher zu sein, dass im Wasser keine Überraschungen warten. Hier zu versacken heißt unter Umständen, lange auf Hilfe zu warten.
In diesem Fall ist das Wasser zwar nicht mal knietief, doch der Untergrund ist der reine Pudding. Also ein bisschen mehr Schwung nehmen und durch.
Kurz vor dem Örtchen Gus wird es noch einmal sehr matschig, dann ist es geschafft. Die Piste zieht sich bergauf und wird felsiger. Das ist wegen der Steine kein schönes Fahren, aber wenigstens bleiben die Füße trocken.
Hier wächst vorwiegend Whistlethorn. Ein Busch mit langen Dornen, die ohne weiteres auch Reifen killen können. Die Besonderheit: am Fuß der Dornen bohren Ameisen Löcher, auf die der Busch mit Wucherungen reagiert, so dass die Dornenbasis dick und hohl wird. Dank des Ameisenloches flöten die Dornen, wenn der Wind daran vorbei bläst.
Nach einem langen und steilen Abstieg stehen wir endlich am Ufer des Sees. Der Turkana See ist der größte dauerhaft wasserführende Wüstensee der Erde, 250 km lang und bis zu 50 km breit. Er hat keinen Abfluss und sollte deshalb eigentlich im Laufe der Zeit immer salzhaltiger werden. Doch das Wasser schmeckt merkwürdig neutral, kaum salzig. Auch riecht es nicht unangenehm, anders als an den meisten (Natron-)Seen des Ostafrikanischen Grabenbruchs.
Und noch eines ist anders als in diesen Seen. Der Turkana See ist nicht “abgesoffen” Bei allen anderen ist aus unerklärlichen Gründen der Wasserstand kräftig gestiegen. Er hat Gebäude und Wege überschwemmt, Campingplätze unbenutzbar gemacht und das natronhaltige Wasser soweit verdünnt, dass die Flamingos geflüchtet sind.
Wir sehen im Turkana See zwar auch keine Flamingos, doch hier leben stattliche Exemplare von Krokodilen und große Fische, die die Angelverrückten aus aller Welt hierher ziehen.
Der Hauptort im Süden des Sees heißt Loiyangalani und ist eine palmenbestandene Oase mitten in einer öden Steppe, um die sich einige kleinere Dörfer gruppiert haben. In jedem dieser Dörfer leben nur Mitglieder eines Stammes. Burana, Gabbra, Turkana, Samburu. Wir haben versucht, die Menschen zu unterscheiden, aber für uns sehen sie alle gleich aus. Die einzigen, die wir immer erkennen können, sind die Rendille. Die sind hier zwar nicht sehr zahlreich, fallen aber immer auf, weil sie kunterbunt angezogen sind. Je mehr Farben, desto besser. Auch auf dem Kopf tragen sie phantasievolle Kreationen. Nur das Unterscheiden von Männlein und Weiblein ist uns schwer gefallen.
Wir hätten gerne ein paar Rendille fotografiert, sie sind wirklich anschauenswert, doch immer dann, wenn wir, ohne dass jemand Anstoß nahm, fotografieren konnten, wie bei der Kircheneinweihung, waren keine Rendille zu sehen. Sie auf der Straße direkt abzufotografieren, fanden wir unangemessen.
Die beste und bekannteste Unterkunft in Loiyangalani ist das Oasis Hotel, das seit 36 Jahren von einem Deutschen geführt wird. Noch ein Wolfgang. Wir sollen ihn von mehreren Leuten grüßen und fahren deshalb als erstes in die Lodge.
Sie wirkt verlassen und erst nach einiger Zeit macht ein Wächter das Tor auf. Beim Weg zur Rezeption ahnen wir, dass das mal eine schöne Anlage gewesen sein muss.
An der Bar sitzt ein älterer Weißer, schaut uns aus leeren Augen an und lallt dann, dass er kein Camping anböte, nur Chalets für 40 $. Er war offensichtlich sein einziger - und bester - Kunde. Nicht nur die Anlage, sondern auch der Besitzer scheinen die beste Zeit lange hinter sich zu haben. Man hatte uns zwar schon bezüglich Alkoholkonsum vorgewarnt, doch das war noch heftiger als erwartet. Wir verzichten auf das Überbringen der Grüße und machen uns umgehend aus dem Staub.
Das Nachbarcamp, das in den Reiseführern recht gute Kritiken hat, stellt sich ebenfalls als abgetakelt heraus und auch ein weiteres ist ziemlich heruntergekommen. Das vierte können wir nicht erreichen, weil die Piste tief unter Wasser steht. Mangels Alternativen versuchen wir, das Wasser zu umgehen und fahren um das Dorf herum, um von hinten ins Camp zu gelangen.
Und siehe da: eine gepflegte Anlage, freundliches Personal, grün und schattig. Sogar etwas zu essen kann man bestellen. Perfekt! Hier werden wir ein paar Tage bleiben.
Das Zentrum von Loiyangalani muss man sich als rund 200 m langen staubigen Weg mit Buden rechts und links vorstellen. Shoppingcenter, laut ihrer eigenen Werbung! Sie sind nur wenige Quadratmeter groß, haben alle das Gleiche und meist nicht viel. Heute besonders wenig, denn der Lkw, der die Lebensmittel bringt, ist stecken geblieben. Sie erwarten ihn für morgen.
Um diese City haben sich fünf Dörfer mit den typischen halbkugelförmigen Hütten angesiedelt, für jeden Stamm eines.
Als wir feststellen, dass wir für morgen früh ein paar Eier brauchen könnten, macht sich Wolfgang noch einmal auf den Weg in die City. Es läuft das normale afrikanische Ritual ab. “Nein, wir haben heute keine Eier, aber wenn Du die Straße weiter runter gehst, dort gibt es welche!” Am Ende der Straße angekommen geht das Spiel normalerweise in die andere Richtung zurück. Heute jedoch nicht. Denn bald hat es sich herumgesprochen, dass da ein Mzungu Eier sucht (Mzungu ist der freundlich gemeinte Rufname für Weiße in Ostafrika). Ein junger Mann, Mike, spricht Wolfgang an. Er wisse, wo es Eier gäbe, es wäre nicht weit von hier.
“Nicht weit” ist in Afrika ein sehr relativer Begriff. Nach zehn Minuten sind sie durch das erste der Stammesdörfer hindurch marschiert. Dort gibt es zwar Hühner und vermutlich auch Eier, doch es ist der falsche Stamm. Mike ist nämlich Turkana und deren Dorf kommt erst danach. Noch einmal zehn Minuten später im “richtigen” Dorf ruft Mike den Leuten nur kurz zu, dass der Mzungu Eier braucht und schon kommen aus den Hütten Frauen gelaufen, ein oder zwei Eier triumphierend in der Hand schwenkend. Der Preis ist schnell verhandelt (Weiße zahlen immer ein bisschen mehr) und schon hat Wolfgang eine Plastiktüte mit sechs garantiert frischen Eiern in der Hand. Sie sind deutlich kleiner als gewohnt, aber woher sollen die Hühner hier in der Wüste das Futter nehmen, um große Eier zu legen?
Nach einer Stunde ist Wolfgang wieder im Camp. Eier kaufen in Deutschland ist deutlich langweiliger.
Wir sind heute zu faul, um selber etwas zu essen zu kochen und nehmen das Angebot des Platzwarts an. Wir bestellen bei ihm Fisch mit Gemüse und Kartoffeln. Die Zubereitung wird etwa eine Stunde dauern, da er die Zutaten erst noch kaufen muss.
Pünktlich nach einer Stunde kommt er mit mehreren Töpfen und Tellern zu uns. Wir decken noch schnell den Tisch und genießen einen wirklich leckeren gebratenen Fisch aus dem Turkana See mit Gemüse und Kartoffeln.
So kann man es aushalten. Auch temperaturmäßig. Zurzeit haben wir Glück. Abends weht ein kühler Wind von den Hängen des Mount Kulal herunter, der den Ort um 2000 m überragt. Noch letzte Woche waren es hier weit über 40°C. Auch wettermäßig war es gut, dass wir bei den Missionaren waren.
Donnerstag, 4.12.14 (Palm Shade Camp, Loiyangalani): Heute kommt noch ein zweites Fahrzeug ins Camp. Es ist über und über eingeschlammt. Die beiden kommen aus Nürnberg und sind gerade die Strecke gefahren, die wir noch vor uns haben. Es wäre furchtbar gewesen und wir hätten mit unserem Bus keine Chance, da hindurch zu kommen.
Leider wissen sie nicht mehr exakt, wo genau die übelsten Schlammpassagen waren. Sie sind einfach dem Navi gefolgt.
Jetzt ist guter Rat teuer.
Sollen wir umdrehen und den langen Weg zurück über North Horr nach Marsabit nehmen? Oder einen völlig anderen Weg suchen, denn es gibt ein paar Pistenalternativen, zu denen wir allerdings von Einheimischen nichts Gutes gehört haben. Oder sollen wir einfach den geplanten Weg probieren und vor Ort entscheiden, ob wir versuchen, durch den Schlamm zu kommen oder ihn zu umgehen.
Bei der weiteren Unterhaltung fällt uns auf, dass die beiden mangels eigener Erfahrung nicht recht beurteilen können, ob unser Bus die Strecke schafft oder nicht. Nachdem wir ihnen erzählt haben, dass wir bei einem halben Meter Wasser noch nicht in ernsthafte Schwierigkeiten kommen - sofern der Untergrund fest ist - und dass wir eine recht gute Bodenfreiheit haben, wird aus dem anfänglichen “Geht gar nicht” ein “Na, vielleicht geht’s ja doch”.
Wir sind völlig unentschlossen.
Überhaupt nicht unentschlossen sind wir bei der Wahl des Abendessens. Wir nehmen noch einmal genau das Gleiche wie gestern. Es war einfach zu gut.
Außerdem fragt uns der Platzchef, ob wir noch Eier brauchen, es hat sich nämlich sogar bis zu ihm herumgesprochen, dass wir gestern auf der Suche waren. Wir bestellen nochmals sechs, jetzt ohne Fußmarsch.
Freitag, 5.12.14 (Palm Shade Camp, Loiyangalani): Heute wollen wir uns den See und die Umgebung anschauen.
Einige Kilometer entfernt liegt ein Dorf des kleinsten Stammes Kenyas, der El Molo. Sie wären vor einigen Jahren beinahe ausgestorben, weil ihre Tradition ihnen nur erlaubte, innerhalb des Stammes zu heiraten. Als es nur noch wenige hundert Stammesmitglieder waren, haben die Ältesten entschieden, dass sie nicht die letzten ihre Art sein wollen und gemischte Ehen gestattet, also Einheirat von anderen Stämmen. Jetzt sind es wieder deutlich mehr, aber für ein langfristiges Überleben des Stammes immer noch zu wenige.
Das Dorf liegt oberhalb des Sees auf einem kahlen Hang. Die El Molo sind Fischer, andere Arbeit gibt es hier nicht. Wir können weder Äcker noch Vieh erkennen, doch möglicherweise stehen die im Hinterland.
Wir halten ein Stück außerhalb des Dorfes. Wenige Minuten später hat uns das halbe Dorf begrüßt. “Hello Mzungu, how are you” Ob wir uns das Dorf anschauen wollten? Eigentlich wollten wir das nicht, sondern nur mal kurz von außen anschauen. Aber warum eigentlich nicht?
Einer der jungen Männer spricht recht gut englisch und erzählt uns ein wenig über das Leben hier. Berenge, so heißt er, würde uns gern im Dorf herumführen, gegen einen kleinen Obolus, der dem ganzen Dorf zugutekommt.
Wir sind einverstanden und sollen unser Auto auf den Dorfplatz stellen.
Kaum sind wir dort ausgestiegen, ist Anette von einem Dutzend Kindern umringt. Alle wollen an die Hand genommen werden, doch Anette hat einfach zu wenige Hände. Erstaunlicherweise hören wir nicht ein einziges Mal “Give me sweets” oder direkter “Give me money”. Offensichtlich kommen hier nur wenige Touristen vorbei. Oder die Kinder sind gut erzogen.
Der Ort ist praktisch frei von Grün. Hier wächst einfach nichts, weil weder geeigneter Boden noch Wasser vorhanden sind. Das Dorf sieht aus, als hätte man es frisch in diese Kieswüste verpflanzt, denn auch der sonst in Kenya übliche Wohlstandsmüll liegt nur spärlich herum. An sich lebten die El Molo auf einer der vorgelagerten Inseln, um sich besser vor Feinden schützen zu können, doch sie sind schon vor langer Zeit hierher umgesiedelt. Trotzdem wirkt das Dorf merkwürdig neu.
Immerhin wird am Ortsrand eine Schule mit drei Klassenzimmern gebaut. Kinder gibt es ja genug. Doch wovon sollen sie in Zukunft leben? Fischerei? Vielleicht stammen die Fische, die wir im Camp gegessen haben, von hier. Auf jeden Fall wird Trockenfisch produziert, denn zum Kühlen von Frischfisch fehlt der Strom. Tourismus? Das kann bestenfalls ein Zubrot sein, denn die Region ist viel zu abgelegen. Bleibt also die Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung oder der Weggang.
Ein wenig Umsatz machen sie am Ende des Rundganges mit Anette. Der angebotene Schmuck sieht ganz nett aus und ist ein schönes Mitbringsel für zu Hause.
Wolfgang kann gerade noch verhindern, dass wir auch noch einen Hund im Auto haben. “... aber er ist doch soooo niedlich!”
Am Ende des Rundganges muss Anette der versammelten Kinder- und Erwachsenenschar noch erklären, dass wir zwei ziemlich bissige Wachhunde auf dem Armaturenbrett liegen haben, da passt beim besten Willen kein dritter Hund dazu. Wolfgang kann das nur unterstützen.
Auf der Rückfahrt nehmen wir noch eine junge El Molo bis nach Loiyangalani mit. Wir setzen sie auf den Beifahrersitz. Was sie wohl denken mag? Normalerweise läuft sie die zehn Kilometer zu Fuß oder sitzt auf der staubigen Ladefläche eines Pickups in der Sonne. Und dieses Mal weich gepolstert, staubfrei und schattig. Leider können wir uns nicht mit ihr unterhalten, da sie kein Wort Englisch spricht. Aber als sie sich beim Aussteigen bedankt, sieht man ihr an, dass es ihr gut gefallen hat.
Samstag, 6.12.14 (Yare Camel Camp, Maralal): Um kurz vor sechs sind wir schon auf den Beinen. Wir wollen heute versuchen, bis nach Maralal durchzukommen. Das ist der Weg, den die beiden Nürnberger gekommen sind. Alle anderen Alternativen erscheinen uns - im Augenblick - noch schlechter zu sein. Mal sehen, wie wir das heute Abend beurteilen. Auf jeden Fall verabreden wir mit den beiden, dass wir uns melden, wenn wir heil durchgekommen sind. Und da sie dieselbe Strecke in wenigen Tagen ebenfalls fahren wollen, bitten wir sie, nach einem gelben Dach im Schlamm Ausschau zu halten, vielleicht können sie uns dann rausziehen.
Die ersten 30 Kilometer geht es durch eine öde Lavawüste, immer am Ufer des Sees entlang. Querab im See liegt eine große Vulkaninsel, South Island genannt, die als Nationalpark ausgewiesen ist.
Hier irgendwo oder auf dem benachbarten Festland soll die “Wiege der Menschheit” liegen. Man hat Knochen eines menschenähnlichen Wesens gefunden, die diesen Schluss nahe legen. Wenn hier unsere Wiege war, dann war das aber eine schwere Geburt. Doch vermutlich war die Landschaft damals lieblich und grün und fruchtbar. Heute ist sie das genaue Gegenteil. Wer weiß, wenn sich das Klima nicht geändert hätte, würden wir vielleicht noch heute hier leben. Viele Probleme unserer Welt würde es dann nicht geben. Wär’ die Welt besser?
Wir sind jedenfalls froh, dass wir hier nicht leben müssen. Die Gegend ist im Übrigen fast unbewohnt (naja, ein paar sind in der Nähe der Wiege wohnen geblieben).
Der Lavaschotter auf der Piste ist extrem scharfkantig und ein intensives Peeling für unsere Reifen. Er stanzt zentimetergroße Stücke aus dem Profil und es ist ein Wunder, dass die Reifen das klaglos mitmachen.
Nach zwei Stunden haben wir die 30 km hinter uns und die Fahrt wird ein wenig flotter. Es geht von 400 m Seehöhe stetig bergauf, es wird grüner und später auch waldiger. Hin und wieder wird man daran erinnert, dass das Gebiet noch nicht durchgängig befriedet ist. Wir sehen einige Male Hirten mit einer Kalaschnikow bei ihren Herden stehen. Wir winken immer sehr freundlich zu ihnen hinüber, denn wenn sie zurück winken können sie nicht gleichzeitig schießen. Nein, im Ernst, wir fühlen uns nicht bedroht.
Ein paar schlammige Passagen warten noch auf uns, doch alles in allem geht es ziemlich zügig voran, jedenfalls deutlich besser, als wir befürchtet haben.
Ein paar Kilometer abseits der Piste liegt ein Aussichtspunkt, der sich großspurig “World View” nennt. Die Welt von oben anzuschauen, scheint in Ostafrika beliebt zu sein. Wir hatten drei oder vier Punkte, die sich ebenso nannten und an denen uns die Welt zu Füßen lag. Wenigstens ein kleiner Teil davon. Doch der Punkt, von dem aus man wirklich das Gefühl hatte, auf die Welt hinunter zu schauen, der nannte sich ganz bescheiden Kilimanjaro. Sie sollten ihn in Zukunft als “the real world view” vermarkten.
Unser World View ist jedenfalls leichter zu erreichen als der Kili. 10 km über schmale und manchmal matschige Feldwege, die wir nie gefahren wären, wenn das Navi nicht beharrlich behauptet hätte, dass wir auf dem richtigen Weg seien. Und tatsächlich wartet am Ende mitten auf einer Wiese ein großer Torbogen, hinter dem man die Welt bestaunen darf. Natürlich nicht ohne vorher einen Obolus an die ortsansässige Gemeinde bezahlt zu haben. Wer die Welt schauen will, darf nicht kleinlich sein.
Der Ausblick ist schon recht eindrucksvoll.
Mit dem Feldstecher meinen wir, am Horizont den Turkana See erkennen zu können. Das wären an die 200 km. Von hier oben wirken die umliegenden Berge, die zum Teil Zugspitzniveau erreichen, eher bescheiden. Ein bisschen World-View-Feeling stellt sich durchaus ein.
Eine Stunde später haben wir Maralal erreicht. Den ersten Teil des Rückweges hätten wir also geschafft und die restlichen 120 km werden wir morgen unter die Räder nehmen.
In Maralal finden wir die erste Tankstelle seit zehn Tagen. Es wird auch Zeit, denn bis in die nächste Stadt hätten wir es nicht mehr geschafft. Kurz vorm Ort haben wir den letzten Kanister nachgefüllt. Unser Spritverbrauch, der in Friedenszeiten bei 9 bis 11 Litern liegt, ist, seit wir den Asphalt verlassen haben, streckenweise auf über 16 Liter/100 km geklettert. Deutlich mehr als geplant; ein Tribut an die langen Passagen im 1. und 2. Gang. Im Schnitt haben wir nicht mal 30 km in einer Stunde geschafft.
Viel Auswahl an Campingmöglichkeiten haben wir hier nicht. Das einzige vernünftige Camp liegt etwas außerhalb der Stadt und gehört zum Camel Club von Maralal. Hier findet einmal im Jahr ein großes Kamelrennen statt. Während dieser Zeit ist die ganze Welt zu Gast, außerhalb der Saison niemand. Jedenfalls sind wir die einzigen Gäste.
Auch im Restaurant, denn heute sind wir zu faul, noch etwas zu essen zu machen. Nach fast 12 Stunden auf der Piste fallen wir nach dem Essen zügig um. Außerdem ist es zum ersten Mal seit langem nachts kalt. Richtig unangenehm kalt. Herrlich.
Sonntag, 7.12.14 (Jungle Junction, Karen): Direkt neben dem Camp stehen die Rennkamele. Sie sehen für uns Laien nicht anders aus, als alle anderen Kamele. Weder langbeiniger noch tiefer gelegt, weder muskulöser noch windschnittiger. Aber vielleicht ausdauernder, denn das längste Rennen geht über die Marathondistanz.
Einer der Angestellten der Lodge erzählt uns ganz stolz, dass er vor einigen Monaten eines der Rennen gewonnen hätte.
Für uns passen Kamelrennen eher zu Arabien, zu Wüste und Sand, aber nicht zum fettgrünen Hochland von Kenya.
Unser eigenes Kamelrennen ist heute rund 350 km lang und führt nach Nairobi. Davon wird das erste Drittel schwierig sein, weil die Piste bei Regen unpassierbar werden kann. Zu unserer großen Freude hat es in den letzten drei Tagen nicht geregnet. Ganz im Gegenteil, die Sonne hat reichlich Wasser aufgesogen. Die Piste ist über weite Strecken hart wie Beton. Das macht das Fahren nicht unbedingt schneller als im Schlamm, denn die Fahrbahn ist tief zerfurcht, aber wir haben auch nicht mehr die Angst, stecken zu bleiben. Kurz vor dem Ende der Buckelpiste kommt uns das erste Nicht-Allrad-Fahrzeug entgegen, jetzt dürften wir es also geschafft haben.
In Rumuruti, da wo der Asphalt anfangen sollte, sehen wir Baufahrzeuge und Umleitungsschilder. Es wird noch einmal sehr schlecht, doch nebenan wird schon der Damm für die neue Straße geschoben. In ein paar Jahren wird man in einer Stunde von hier nach Maralal rauschen, anstatt wie wir sechs Stunden im Auto durchgeschüttelt zu werden.
Und nun wieder Asphalt. Plötzlich hören wir während der Fahrt den Motor, wir sitzen viel entspannter und wir hören, dass es irgendwo quietscht. Es scheint von der Vorderachse zu kommen, aber es hört sich nicht so schlimm an, dass wir uns gleich drum kümmern müssten.
Ohne es zu merken geht es über den Äquator zurück auf die Südhalbkugel.
Ganz dekadent kehren wir in einem hypermodernen Fastfoodrestaurant an der höchsten Stelle der Straße ein. Anette genießt eine Pizza, Wolfgang Hühnerteile in 2700 m Höhe.
Bei Einbruch der Dunkelheit kommen wir in Nairobi an. Die Stadt empfängt uns wie so oft mit Nieselregen und Verkehrsstau. Dann haben wir riesiges Glück. Ein Betrunkener torkelt über den Mittelstreifen auf die Fahrbahn der vierspurigen Straße. Der Lkw neben uns bremst mit qualmenden Reifen, der Betrunkene taumelt auf unseren Fahrstreifen und bleibt zwischen Lkw und uns stehen. Er merkt vermutlich nicht einmal, dass er gerade mit dem Leben davon gekommen ist. Wenn er uns vors Auto gefallen wäre, wären wir auf jeden Fall Schuld gewesen, denn die Mzungus sind immer die Reicheren und damit immer Schuld.
Wir müssen quer durch Nairobi, um nach Karen zu kommen, wo unser Camp ist. An sich kein Problem, da geht eine Art Schnellweg mitten durch die Slums, doch an dem wird gerade herumgebaut. Wir werden abgeleitet und landen mitten in einem Wohnviertel. Es wird immer ärmlicher und dunkler und wir haben ein verdammt ungutes Gefühl. Laut Karte im Navi sind wir in einem Viertel gelandet, aus dem wir auf der anderen Seite nicht wieder heraus kommen. Außerdem ist es inzwischen dunkel, es regnet weiterhin und die Rushhour ist auf dem Höhepunkt.
Ein Taxi bahnt sich hupend und drängelnd einen Weg gegen den Verkehrsstrom. Wir hängen uns einfach dran, denn laut hupen können wir auch. Schließlich landen wir im Konvoi wieder auf der Baustelle, von der wir vor einer Stunde gekommen sind und folgen einem anderen Wagen quer über den frisch aufgeschütteten Straßendamm auf die andere Seite. Wir hoffen, dass dort ein Weg in unsere Richtung führt.
Und so ist es. Nach ein paar Kilometern merken wir, dass es die richtige Entscheidung war. Kurz vor 21 Uhr trudeln wir schließlich im Jungle Junction Camp in Karen ein.
Außer uns steht nur ein holländischer Monster-Lkw dort. Wir suchen uns ein Plätzchen am Rande der Wiese. In der Mitte ist es wegen des Regens ziemlich matschig und wir haben uns da schon einmal heftig festgefahren. Unser Bedarf an Off Road ist fürs Erste befriedigt.
Kurz darauf liegen wir in der Waagerechten.
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