31.5. bis 2.6.2010, Kisumu (Kenia)
Ein Kinderheim in Kisumu
Ein Kinderheim ist nicht unbedingt der Platz, an dem man sich wünscht, aufzuwachsen. Jedenfalls dann nicht, wenn man in einer halbwegs intakten Familie lebt. Das sehen auch Freddy und Selina so, ein Deutscher und seine kenianische Frau, die das Kinderheim aufgebaut haben und leiten.
Sie haben hier 60 bis 70 Kinder ”unter Kontrolle”. Ein knappes Dutzend von ihnen lebt direkt im Heim. Alle anderen konnten sie in Gastfamilien in der Umgebung unterbringen, manche sogar bei ihren mittellosen leiblichen Müttern oder Eltern. Dank deutscher Patenschaften und Spenden steht ein wenig Geld zur Verfügung, mit dem die Familien unterstützt werden. Ein Euro am Tag reicht aus, um sicher zu stellen, dass ein Kind in die Schule gehen kann und ausreichend ernährt wird.
Einheimische Sozialarbeiter sorgen in Zusammenarbeit mit dem Kinderheim dafür, dass das Geld in den Familien wie geplant verwendet wird. Sie besuchen die Gastfamilien regelmäßig und behalten die Entwicklung der Kinder im Auge.
Die Alternative zur Unterbringung in Familien wäre, alle Kinder im Heim zusammen zu ziehen. Doch das ist schlicht unmöglich. Es fehlt sowohl am Platz als auch am Betreuungspersonal. Zudem kann ein Heim nur in den seltensten Fällen ein wirkliches Zuhause ersetzen.
Für die Kinder, die hier im Heim leben, konnte noch keine Patenschaft gefunden werden oder sie sind als Notfall hier. So wie der etwa vierjährige Laba (neben Anette). Sein genaues Alter ist, wie das der meisten Kinder, unbekannt. Er fällt sofort auf, denn er ist der Einzige, der diesen typischen aufgedunsenen Hungerbauch hat. Er lebt an sich bei seiner Großmutter, der Rest der Familie ist bereits gestorben. Die Großmutter ist mit ihm überfordert, so dass er als Notbehelf erst einmal im Kinderheim untergekommen ist. Ein Besuch beim für die Großmutter unbezahlbaren Arzt macht das Problem klar: einseitige Ernährung und vor allem Würmer, vermutlich Bandwürmer. Der Junge ist regelrecht voll davon. Eine zweimonatige Wurmkur beginnt gerade zu wirken und der Bauch wird jeden Tag ein bisschen weniger dick. Da seine Hose nur noch aus Fetzen bestand, hat ihm Anette eine passende Hose und ein paar Schuhe von den mitgebrachten Kindersachen angezogen. Seit dem läuft er stolz wie Oskar herum. Es sind vermutlich die ersten eigenen Schuhe, die er in seinem Leben hatte.
Die anderen Kinder auf dem Bild wohnen ebenfalls hier im Heim. Von links sind das halb verdeckt Owiti, Kimani, Joy, Brian und Blessing. Jedes von ihnen hat eine eigene Geschichte, von der selbst die Heimleitung manchmal nur einen Teil kennt. Owiti heißt “der Weggeworfene”. Und genau das ist er auch. Seine Mutter wollte ihn nicht oder konnte ihn nicht ernähren, also hat sie ihn irgendwo abgelegt. Wenn ihn jemand findet, ist’s gut, wenn nicht, hat er eben Pech gehabt.
In solchen Fällen springt in Afrika zwar oft die erweiterte Großfamilie ein, doch wenn das Kind von der ganzen Sippe nicht gewollt wird, landet es im besten Falle hier. Und im schlechtesten Falle auf der Straße und ist schon als kleines Kind sich selbst überlassen.
Kimani, der neben Owiti steht, hat sich, als er ins Heim kam, wie ein geprügelter Hund verhalten. Er wurde von seinem Onkel erzogen, der ihn im Alkoholrausch ständig geschlagen hat. Immer, wenn er im Heim seinen Namen rufen hörte, nahm er als erstes die Arme schützend über den Kopf. Dieses Verhalten hat er sich erst sehr langsam abgewöhnt. Jetzt ist er aufgetaut und gibt manchmal den Gruppenkasper. Oft ist er es, der uns nach irgendwelchen Dingen ausfragt und dann den Kleineren in ihrer Sprache erklärt.
Zu Joy und Brian kennen wir die Geschichten nicht, aber sie dürften auch nicht besser sein als die der anderen. Auch die kleine Blessing gibt uns Rätsel auf. Sie lacht so gut wie nie, sondern mustert ihr Gegenüber ausdauernd. Auch wenn man sie anlacht, schaut sie nur regungslos.
Wir hatten von unseren Freunden in Deutschland nicht nur Kinderbekleidung, sondern auch ein paar Spielsachen mitgebracht. Spielzeug ist für die Kinder etwas ganz Neues. Hier wird normalerweise mit allem gespielt, was man gerade hat. Das ist ja auch nicht schlecht, doch man kann ahnen, was richtiges Kinderspielzeug für sie bedeutet.
Wir hatten eine Menge Stofftiere dabei. Kinder in Deutschland sind damit ja üppig ausgestattet und haben uns Dutzende mitgegeben (na ja, meistens waren es die Mütter). Jedes der Heimkinder durfte sich aus dem Haufen ein Tier aussuchen. Diese Art von Entscheidung kannten sie noch nicht, entsprechend schwer taten sie sich. Am schwersten Blessing, die mit ihren Ärmchen alles umklammerte, was sie kriegen konnte. Wer weiß, wann sie wieder mal so eine Gelegenheit hat. Die Tränen kullerten, als die anderen auch etwas haben wollten, doch schließlich hat sie wohl eingesehen, dass sie nicht alles behalten kann. Auch Owiti strahlte über beide Backen. Und Blessing hält nur noch Snoopy fest umklammert.
Außer den Stofftieren hatten wir noch einige Spielzeugautos dabei. Unser Klischee war: die Mädchen mögen eher die Stofftiere, die Jungen eher die Autos. Doch das war Quatsch. Hier spielt jeder mit allem, was da ist, egal, ob rosa oder hellblau oder plüschig oder schnittig.
Als wir die Autos auspacken, ist das Durcheinander zuerst ziemlich groß. Doch Ochien, der Älteste hier, sorgt für Ordnung. Jeder greift sich ein Auto und spielt zusammen mit den anderen. Blessing schnappt sich das bunteste Auto und gibt es nicht wieder aus den Händen. Sogar ein schwaches Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Inzwischen sind die Kinder aus dem Kindergarten darauf aufmerksam geworden, dass hier etwas los ist. Man erkennt sie an den weinroten Schuluniformen. Erst schauen sie nur neugierig zu, doch nach wenigen Minuten wuselt jeder, der da ist, mit irgend einem Auto auf dem Boden herum. Quer durch alle Altersklassen.
Die Lebensdauer von Spielzeugautos muss man hier eher in Stunden als in Tagen messen. Die ersten Einzelteile drücken uns die Kinder schon wenig später fragend in die Hand. Musungus haben hier offensichtlich den Ruf, alles wieder reparieren zu können.
Die längste Lebensdauer ist den Metallautos beschieden, obwohl die am härtesten rangenommen werden. Ganz besonders die mit dem Federmotor haben es den Kindern angetan. Zuerst wussten sie nicht, warum sich das Auto selbstständig bewegt. Doch nach kurzer Zeit hatten sie begriffen, dass man das Auto nur ein bisschen rückwärts ziehen muss, damit es dann mit Schwung nach vorne flitzt.
Der Kindergarten gehört zum Kinderheim. Hier sind zwei von Spenden bezahlte Lehrerinnen angestellt, die den Kindern vom dritten Lebensjahr an spielerisch Unterricht geben. In Kenia gibt es vor dem Schulbeginn einen Aufnahmetest, in dem die Kinder beweisen müssen, dass sie schon einfache Worte schreiben und kleine Rechenaufgaben lösen können (5 + 5). Wer diesen Test nicht besteht, muss noch ein weiteres Jahr in den Kindergarten. Deshalb besucht ein etwa neunjähriges Mädchen, das im letzten Jahr ins Heim kam, zunächst den Kindergarten, weil sie in ihrem bisherigen Leben keine Chance hatte, die für die Schule notwendigen Fertigkeiten zu erlernen.
Die Schulpflicht, die in Kenia ab dem sechsten Lebensjahr gilt, ist damit quasi auch eine Kindergartenpflicht. Deshalb haben Kinder aus ländlichen Gegenden quasi keine Chance, in die Schule zu gehen, wenn nicht gleichzeitig ein Kindergarten vor Ort ist.
Die Unterrichtssprache ist Englisch. Nur am Anfang erfolgt der Unterricht in einzelnen Fächern in der lokalen Sprache. Da zu Hause fast immer die lokale Sprache gesprochen wird (davon gibt es einige Dutzend in Kenia), ist Englisch für alle die erste Fremdsprache, was den Unterricht besonders in der sog. Primary School ganz schön schwierig macht. Sich mit kleinen Kindern zu unterhalten, ist deshalb für uns ziemlich aussichtslos. Mit größeren klappt es aber recht gut.
Die Kinderbekleidung haben wir Freddy und Selina überlassen, damit sie sie bei Bedarf an Kinder, die sie wirklich brauchen, weiter geben können. Die Kinder im Heim sind in dieser Hinsicht nicht die Bedürftigsten, sondern eher die in den Familien aufwachsenden Pflegekinder.
Eine andere unwiderstehliche Attraktion ist unser Computer. Kaum sitzt einer von uns auf der Veranda und will Mails schreiben, sitzt ein halbes Dutzend Kinder rechts und links und schaut gespannt zu, was wir da machen. An Mails ist dann natürlich nicht mehr zu denken.
Anfangs sind sie ganz begeistert davon, dass man mit dem Finger auf dem Touchpad diesen kleinen Zeiger auf dem Bildschirm bewegen kann. Jeder will es einmal versuchen.
Als wir ihnen einige Bilder aus dem Kinderheim zeigen, sind sie ganz aus dem Häuschen und wir müssen die Bilder mehrmals vorführen, damit sich alle gesehen haben. Die Folge davon ist, dass sie sich immer, wenn wir die Kamera in die Hand nehmen, vor die Linse drängeln.
Dann fragen sie, ob wir “Pictures of German” hätten. Wir zeigen ihnen, wo und wie wir wohnen. Auf einigen Bildern ist Schnee zu sehen und wir müssen ihnen lang und breit erklären, was das ist und wie es sich anfühlt. Da die Kleineren ja noch kein Englisch können, übersetzt es immer einer der Älteren. Doch es wird für sie wahrscheinlich unbegreiflich bleiben, dass wir unter diesen Umständen überhaupt leben können.
Ein großes Oohh gibt’s bei den Schiffen im Hamburger Hafen. Die Fotos von den Cruise-Days, an denen etliche Luxusliner in Hamburg festgemacht hatten, müssen wir immer wieder zeigen. Das ist ihnen hier im kenianischen Hochland genau so fremd wie Schnee.
Aber das Allergrößte ist ein Computerspiel. Dabei kann man auf einem Mountainbike in den Alpen bergab in ein Tal fahren. Das geht natürlich nicht ohne Stürze ab, wenn man nicht richtig lenkt und bremst. Die Kinder lachen sich immer schlapp, wenn die Trickfigur und das Fahrrad den Hang herunter purzeln und wenige Sekunden später für einen neuen Versuch wieder auf dem Parcours stehen.
Glücklicherweise läuft auf dem Bildschirm deutlich sichtbar eine Uhr mit, so dass wir jedem fünf Minuten geben, Fahrradfahren zu üben. Keiner von ihnen hat vermutlich jemals in Wirklichkeit auf einem Rad gesessen, geschweige denn auf dem eigenen. Die Jüngeren tun sich naturgemäß schwer mit der Tastatur, doch die Älteren haben schnell begriffen, wie man die Richtungstasten und die Bremse bedient und wie man in die Pedale tritt. Vom eigentlichen Bildschirm kann man oft kaum etwas sehen, weil alle die Köpfe so dicht wie möglich dran haben wollen. Es scheint spannend wie Kino zu sein. Auch der zwanzigste Sturz wird noch mit großem Vergnügen kommentiert.
Schwierig ist es nur, ein Ende zu finden. Wir wollen ja nicht, dass die Kinder heute Nacht Alpträume von ihren Fahrradstürzen haben. Unser Trick: den Laptop nicht am Stromnetz, sondern mit dem Akku betreiben. Da ist wegen der hohen Rechenleistung, die das Spiel erfordert, nach gut einer Stunde Schluss. Finished. Doch wir müssen versprechen, dass die Akkus morgen wieder voll sind.
Am folgenden Tag kommt immer wieder mal die Frage nach den Akkus und kaum macht man Anzeichen, dass es wieder gehen könnte, sitzen sie alle sofort um den Computer herum. Die Faszination dieses Dings ist wohl weltweit die Gleiche.
Es waren ziemlich entspannte und fröhliche Tage hier im Kinderheim, wenn man von den Momenten einmal absieht, wo wir Details über die Lebensgeschichte einzelner Kinder erfuhren.
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