1.8.09, Ngare Sero (Tanzania)
Der Rentnermacherberg
Ich weiß nicht, was Menschen dazu treibt, auf Berge zu klettern. Vielleicht einfach, weil sie da sind.
Der Ol Doinyo Lengai ist nicht einfach nur da, er beherrscht die Landschaft. Ein makelloser Kegel, wenn man vom Natronsee hinauf schaut, 2000 m über der Ebene. Der Fujijama Afrikas. Kein Wunder, dass ihn die Massai zu ihrem Götterberg auserkoren haben. Ein denkwürdiger Berg für einen denkwürdigen Tag. Der 31. 7. ist mein letzter Tag als arbeitender Teil der Bevölkerung (ok, einige sagen, der Kerl hat ja nie richtig gearbeitet) und der 1.8. ist mein erster Tag als Rentner.
Kurz nach 23 Uhr klopft Lemra, mein Bergführer, an unseren Bus. Ich hatte mich hingelegt, aber nicht geschlafen. Ein paar Minuten später ist alles zusammengepackt und abmarschbereit. Ich komme mir vor, als würde ich zur Nachtschicht gehen.
Nach dem Abschied von Anette, die befürchtet, dass ich mir die Haxen breche und sie den Bus alleine durch den Sand fahren muss, geht’s mit vier Leuten in einem Geländewagen in die Dunkelheit. Neben dem Fahrer zur Sicherheit noch ein weiterer Einheimischer, Frank, und natürlich Lemra und ich.
Der Wagen fährt querfeldein durch einige Trockenflüsse an den Hang des Lengai und stoppt schließlich. Ab hier geht es nur noch zu Fuß weiter. Ich hatte angenommen, die beiden anderen würden jetzt wieder zurückfahren, doch sie werden im Auto übernachten und auf uns warten, bis wir wieder vom Berg runter sind.
Als Lemra und ich losmarschieren, ist es Mitternacht. Und plötzlich bin ich Rentner. Ob es klug war, als erste Beschäftigung in meinem Rentnerleben auf den Lengai zu wollen, wird sich noch herausstellen.
Es geht ganz gemütlich los, wir können uns sogar noch unterhalten. Der Mond ist relativ hell und wird uns noch drei Stunden erhalten bleiben. Jona hatte mir dringend empfohlen, einen Stock mitzunehmen, das würde das Gehen enorm erleichtern. Also habe ich, kaum dass ich Rentner geworden bin, schon einen Krückstock in der Hand. Den Kilimanjaro habe ich noch auf zwei Beinen erreicht, jetzt sind es schon drei und der nächste Berg wird dann mit einem Gehwagen bezwungen.
Wir haben unsere Stöcke nach Massai-Art in den Nacken gelegt und die Arme seitlich darüber gehängt. Das zwingt zu einem aufrechten Gang, wie er bei den Massai üblich ist.
Lemra ist in dieser Gegend geboren, verheiratet, hat drei Kinder und ist schon viele Male auf dem Lengai gewesen. Er spricht recht gut Englisch, das war eine meiner Bedingungen. Die zweite war, dass er Massai ist, denn auf dem heiligen Berg der Massai kann das nur so sein.
Ich habe das Gefühl, wir kommen überhaupt nicht näher an den Gipfel ran, doch der Blick zurück sagt etwas anderes. Wir haben schon einige hundert Meter Höhe gewonnen. Jetzt können wir auch erkennen, ob noch andere Leute auf dem Berg unterwegs sind, denn es gibt nur diese eine Route. Es ist niemand zu sehen und nichts zu hören. Wir sind die einzigen.
Es ist mucksmäuschenstill hier oben, keine Vögel, keine Zikaden, Windstille. Es ist etwas unheimlich, man muss sich erst daran gewöhnen. Außerdem sieht man in der Ebene nicht ein einziges künstliches Licht, denn hier gibt es keinen Strom.
Nach einer Stunde machen wir einen abrupten Schwenk. Bisher ging es schräg auf den unteren Hang hinauf, ab jetzt auf direktem Wege Richtung Gipfel. Es wird steiler und aus der gemütlichen Bergwanderung wird richtiges Klettern. Der Hang besteht aus Asche mit eingestreuten Steinen, manchmal ist das Ganze zu festen Brocken zusammengebacken. Der Regen hat große Furchen ausgespült, manche sicher zehn Meter tief. Wenn man hier den falschen Weg nimmt, steckt man plötzlich in einer Sackgasse.
Das Klettern geht mächtig in die Beine. Ich komme in keinen Rhythmus, weil jeder Schritt anders ist. Mal sind es nur ein paar Zentimeter, mal muss man sich gleich einen Meter hoch wuchten, um wieder festen Stand zu haben. Und manchmal geht es ein Stück abwärts, weil das Geröll wegrutscht.
In der ersten größeren Pause hole ich den Höhenmesser heraus. Wir sind auf knapp 2000 m angekommen und es ist merklich kälter geworden. Da unsere Pullover zudem völlig durchgeschwitzt sind, müssen wir schleunigst Windjacken überziehen, sonst wird es schnell ungemütlich.
Es ist ein seltsames Gefühl hier oben. Wenn man nach unten schaut, bekommt man Angst, dass man bei einem Fehltritt 1000 m abwärts saust. Als gäbe es kein Halten mehr. Nach oben hat man den Eindruck, als hätte man es gleich geschafft, da wirken dieselben 1000 m fast wie ein Spaziergang.
Ein paar Minuten später färbt sich der Mond rötlich und verschwindet schließlich. Dann ist es stockdunkel. Wir holen unsere Taschenlampen heraus. Die nächsten zwei Stunden sind die schwierigsten. Im Lampenlicht kann man nur schwer erkennen, wo es locker ist und wo fest. Der Stock verhindert etliche Male, dass ich den Hang herunterrutsche, doch allmählich bekomme ich eine Blase in der rechten Hand und die Arme werden lahm.
Kurz nach vier Uhr legen wir die nächste Pause ein. Wir verkeilen uns quer in einer ausgespülten Rinne und sehen zu, dass wir nichts fallen lassen, denn das verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Dunklen. Nach einigen Keksen mit Wasser beschließen wir wortlos, eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Es ist unglaublich, in welch ungemütlichen Stellungen man tatsächlich schlafen kann, wenn man richtig platt ist.
Nach 20 Minuten stehen wir wieder auf den Beinen. Das Loslaufen fällt verdammt schwer und ich rutsche einige Male den Hang hinunter. Ein anderes Mal kommt Lemras Stock angesaust, den ich gerade noch mit dem Fuß festhalten kann.
Es ist eine elende Quälerei. In den Beinen ist Pudding und der Gipfel kommt immer noch nicht näher. Mehrmals glaube ich, Reifenspuren vor mir zu sehen. Die ersten Aussetzer? Später erzählt mit Lemra, dass jetzt die typische Zeit ist, wo die Leute aussteigen und einfach nicht mehr weiter wollen. Kann ich bestens verstehen. Kein halbwegs intelligenter Mensch kommt auf die Idee, nachts in diesem Hang herumzuklettern.
Die Abstände zwischen den Pausen werden kürzer und manchmal stehen wir minutenlang auf unsere Stöcke gestützt und schnaufen, fast wie zwei alte Rentner.
Nach einer weiteren kurzen Schlafeinlage im weichen Geröll wird der Boden fester. Offensichtlich frischere Lava. Das Gehen wird leichter. Wenn man doch nur etwas mehr Kraft in den Beinen hätte!
Am Horizont ahnt man, dass die Nacht bald zu Ende gehen wird. Erste Konturen der umliegenden Berge sind zu erkennen und die Milchstraße verblasst allmählich. Ab jetzt geht es ohne Taschenlampe. Der Blick nach oben hebt die Stimmung, wir sind offensichtlich im Endanstieg. Vielleicht noch 200 Höhenmeter, dann sollte es leichter gehen.
Kurz nach 6 Uhr passieren wir einen tiefen Einschnitt zwischen den Felsen, ab jetzt sind wir auf dem Aschering des Kraterrandes. Der Boden ist weich, aber bei weitem nicht mehr so steil. Wenige Minuten später können wir einen ersten Blick in den Krater werfen, wir haben es geschafft. Vor uns öffnet sich ein tiefes Loch mit einigen hundert Metern Durchmesser. Drinnen zischt und brodelt es und an mehreren Stellen ist der an sich helle Boden tiefschwarz, die ausgeworfene Lava der letzten Nacht.
Die Lava des Lengai ist die mit Abstand kälteste der Welt. Sie ist schon bei 600° flüssig, andere Vulkane sind doppelt so heiß. Doch man sieht nichts Rotglühendes, kaum an der Luft, verfärbt sich die Lava innerhalb weniger Stunden weißlich-beige. Deshalb sieht der Lengai auch von weitem aus als hätte er eine Schneekappe.
Der Kraterrand, auf dem wir stehen, ist erst vor einem Jahr entstanden. 2007/08 hat der Vulkan für mehrere Monate kräftig abgeblasen und die Vegetation an seinen Hängen völlig zerstört. Damals sind viele Rinder der Massai verendet. Auch heute ist das noch ein Problem, sie verhungern wegen der fehlenden Weidegründe.
Der eigentliche Krater des Lengai ist viel größer. Der neue hat sich am Rande drauf gesetzt und den alten zum Teil verdeckt. Um auf die andere Seite in Richtung Sonnenaufgang zu kommen, müssen wir ein paar hundert Meter auf dem schmalen Rand entlang laufen. Wenn man zur falschen Seite abrutscht, landet man unweigerlich im Kochtopf.
Pünktlich bei unserer Ankunft geht die Sonne auf, die Welt liegt uns zu Füßen. Am Horizont kann man gut den über 100 km entfernten Mount Meru erkennen und für kurze Zeit sogar den Kilimanjaro. Nur der Natronsee verschwindet im Dunst.
Es ist kalt, vielleicht 5°, und es weht ein strammer Wind. Nach ausgiebigem Genuss des Ausblickes und einer kleinen Stärkung muss selbstverständlich das obligate Gipfelfoto gemacht werden. Der alte Mann und der Berg.
Dann geht es an den Abstieg. Aufwärts hat es sechs Stunden gedauert, der Weg zurück dürfte in der Hälfte der Zeit zu schaffen sein. Während wir beim Aufstieg immer möglichst feste Stellen für einen sicheren Tritt gesucht haben, vermeiden wir die jetzt. Ideal sind die tiefsandigen Rillen, in denen wir bei jedem Schritt einen weiteren nach unten rutschen. Erstens geht das nicht so sehr auf die Knie und zweitens sind wir richtig flott.
Nach einer Stunde erreichen wir den Platz, auf dem wir beim Aufweg unsere erste Schlafpause eingelegt hatten. Bei Nacht sah der Hang viel bedrohlicher aus, für den Blick nach unten brauchte man eine gewisse Schwindelfreiheit. Jetzt, wo man alles gut erkennen kann, ist es nur noch ein wunderbarer Ausblick auf den Ostafrikanischen Grabenbruch.
Da die Sonne inzwischen um den Berg herumscheint, ist es angenehm warm und wir können Jacken und Pullover verpacken. Der Pullover ist so nass, dass ich ihn auswringen könnte.
Eine weitere Stunde später sind wir aus dem Steilhang raus, jetzt kommt nur noch der flachere Teil. Seltsamerweise ist der nicht weniger anstrengend, denn wir sind inzwischen reichlich schlapp und es gibt bei jedem Schritt einen Schlag auf die Knie. Aus dem jugendlich federnden Gang vor einigen Stunden ist ein rentnermäßig schwerfälliges Tapsen geworden. Jetzt ein Gehwagen ...
Nach ein paar Kilometern sind wir am Auto, die beiden warten schon. Während sie auf die How-are-you-Frage “Fine” erwidern, fallen unsere Antworten weniger euphorisch aus. “Finished”. Wir plumpsen in die Sitze. Rentnermäßig halt.
Im Camp ist Anette überrascht, dass ich schon da bin. Es ist 11 Uhr. Ich brauche erst einmal ein ordentliches Frühstück, denn die paar Kekse auf dem Berg können die schlappen Muskeln nicht wieder aufpäppeln.
Anette fragt mich, wer denn der alte Mann gewesen sei, der schwerfällig neben mir aus dem Wagen gestiegen ist. Offensichtlich macht der Lengai nicht nur Rentner, sondern lässt auch verdammt schnell altern. Es war Lemra (31).
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